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»DAS BÄRENDELTA«

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Kapitel von Joshy Peters vorlesen lassen:

Es wäre vermessen, keinen Respekt, kein mulmiges Gefühl zu verspüren. Wir befinden uns unzweifelhaft im Kernstück des weltweit bärenreichsten Territoriums. Hier, im Kamtschatkadelta, konzentriert sich die Population der Raubtiere.

Seit Stunden kein Fahrzeug. Ab und zu summt eine Fliege, dann wieder ist es so still, als stecke mein Kopf in einem Glasballon. Feiner, knöcheltiefer Sand bremst unsere Schritte, macht uns müde. Die Piste führt als schmaler Korridor durchs Dickicht.

Das Heulen eines Motors – wenn auch leise und fern – will nicht in die Idylle passen. Dennoch freuen wir uns über den Gruß der Zivilisation. Die Maschine dröhnt immer lauter, in der Biegung taucht ein Tanklaster auf. Er zieht eine Sandwolke hinter sich her, die ihn einholt, als er neben uns bremst. Quietschend öffnet sich die Fahrertür, ein junger Mann mit Wollmütze steigt aus.

»Wo wollt ihr hin?«, fragt er und klopft sich den Staub vom Matrosenhemd.

»Ans Meer«, antworte ich. Sein drahtiger Kollege klettert wortlos vom Führerhaus auf den zylinderförmigen Frachtcontainer und zündet sich eine Zigarette an. Daß unter ihm eine metergroße Aufschrift vor dem feuergefährlichen Transportgut warnt, scheint ihn nicht zu stören. Der »Matrose« langt hinter die Kabine, greift in einen Leinensack und präsentiert uns einen Bärenkopf.

»Wir haben ihn vom Wagen aus geschossen.« Der Bursche schaut uns an und kratzt seinen Dreitagebart. »So wie ihr, das würde ich mich nicht trauen. Die Gegend ist gefährlich.« Vor einer Stunde sahen die Männer acht Bären am Straßenrand. »Das habe ich noch nie erlebt. Stoppt lieber ein Auto und fahrt weiter.«

Als der LKW fort ist, überlegen wir, den Rat anzunehmen. Uns graut es vorm Weitergehen. Wie lange aber sollen wir hier warten? Wer wird uns mitnehmen? Was wird aus der erträumten Ankunft? Soll das etwa dieser Moment sein? Ohne Ziel, ohne Vorfreude? Wir sehen uns in einen Lastwagen steigen, schweigend am Beringmeer eintreffen und später in einer Bar unseren Trübsinn ertränken. Wie automatisch umschließen wir die Schubkarrengriffe und setzen uns in Bewegung.

Unser Gang ist wacklig, die Herzen pochen. Wir führen die Hunde dicht bei uns, machen Krach, singen, pfeifen, bellen. Stundenlang asten wir auf dem steilen, mit Wurzeln gemaserten Pfad durch einen hochgewachsenen Nadelwald, bis der Abend die Hitze des Tages absaugt. Nun verbreitert sich die Straße und führt uns durch weite, wildwüchsige Felder mit vereinzelten Baumgruppen.

Geäst knackt. Wir bleiben stehen, starren zu den Büschen, aus denen das Geräusch kam. Ich schaue zu Markus, lege einen Finger auf meine Lippen, wende mich wieder zum Gesträuch. Meine Knie werden butterweich: Einen Steinwurf von uns entfernt sitzen zwei Bären und fressen seelenruhig Blaubeeren. Der Schreck ist nicht so groß wie erwartet, aber immer noch groß genug. Die dunkelbraunen Räuber scheinen uns nicht zu wittern. So wie die Hunde sie auch nicht. Als es jedoch im Unterholz raschelt, richten sich Ginas „Radarohren“ auf. Leise kommandiere ich den Vierbeinern, sich hinzulegen. Ich nehme den Fotoapparat aus der Tasche, schraube langwierig das Teleobjektiv ins Kameragehäuse und besteige mit Markus eine kleine Anhöhe. Von hier aus können wir die Bären hervorragend sehen. Doch sie entschwinden aus unserem Blickfeld. ›Für ein gutes Bild muß man auch mal mutig sein‹, denke ich aufgeregt und pfeife – eigenartig verzerrt – zu den Tieren. Eines von ihnen richtet sich auf, schaut in unsere Richtung. Schnell drücke ich den Auslöser, jage einen halben Film durch. Markus bedient die Videokamera. Als wir die Aufnahmen beenden, lacht er seltsam irre, glaubt, nicht verwackelt zu haben.

Die friedliche Begegnung hat die Hoffnung geschürt, daß unsere schlimmsten Befürchtungen Phantasie bleiben. Während wir weitergehen, fällt langsam Dunkelheit aufs Land.

Die heutige Etappe endet nach 42 Kilometern. Zufrieden machen wir ein Feuer, spannen das Zelt auf, krabbeln hinein und gleiten in einen unruhigen Halbschlaf, aus dem uns nicht selten Gebell reißt. Jedesmal krieche ich ins Freie, leuchte mit der Taschenlampe die Umgebung ab und lege Holz in die Flammen. Unser dritter Wächter muß am Leben bleiben.

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