USHUAIA · AM ENDE DER WELT
Das Ende der Welt heißt Ushuaia, liegt in Argentinien – und ist die südlichste Stadt der Welt.
Ich stehe am Ufer des Beagle-Kanals, dessen Wasser gleich jenem Gold im feuerländischen Abendlicht glänzt, welches einst zahllose Trapper in einen Rausch versetzte und nicht selten ihr Leben einforderte.
Ein gestrandetes Schiff liegt ergeben in der Bucht. Die Frühlingssonne dieses Dezembertages schwebt hinter die dunklen, schneebeladenen Gipfel der Anden. Hier enden sie, endet Südamerika, endet die Welt.
Einen Monat fuhr und streifte ich durch »eine der trostlosesten und großartigsten Landschaften«, wie der chilenische Schriftsteller Francisco Coloane seine Heimat Patagonien beschrieb.
Ich versuchte, mich in der Weite der Pampa, welche den Geist zu zermalmen vermag, frei zu fühlen, nahe riesiger, kalbender Gletscher die Zeit zu verlangsamen und zwischen mythischen Bergen namens Cerro Torre, Fitz Roy und Torres del Paine einen Hauch Unvergänglichkeit zu erahnen.
Immer weiter reiste ich, immer südlicher, bis nach Feuerland, bis hierher, bis Ushuaia.
Nun blicke ich auf das Wasser, in dem sich Atlantik und Pazifik mit Urgewalt vermischen und der Legende nach der Teufel mit schweren Fesseln angekettet ist; wo unzählige Schiffe kenterten und, wie man erzählt, sich die Seelen ertrunkener Seefahrer in die Leiber von Robben flüchteten.
»El fin del Mundo«, heißt ein Restaurant an der Uferstraße.
Das Ende der Welt ist das Ende meiner Reise durch das sagenhafte Patagonien.
SANTIAGO · STADT DER LANGEN SCHATTEN
Hier, in Chiles Kapitale, beginnt meine Reise.
Zwischen spanischer Kolonialarchitektur, den prächtigen Boulevard entlang Richtung Plaza de Armas, nehme ich die raschen Schritte der Passanten an. Auch die Blinden – nirgends sah ich je mehr – scheinen sich mit ihren Stöcken hastiger als anderswo das Trottoir entlang zu tasten. Als liefen die Menschen vor etwas davon.
Mag es sein, daß ihr Tempo den normalen Puls einer Großstadt widerspiegelt. Vielleicht aber wirkt auch noch jenes Trauma nach, welches einst Augusto Pinochet über sein Volk gebracht hat. 1973 hatte er mit Hilfe der us-amerikanischen CIA Salvador Allende aus dem Regierungspalast geputscht. Während seiner 15 Jahre währenden Diktatur war er für den Tod von mehr als 3.000 Menschen verantwortlich, für grausame Folter und Verschleppungen, von denen viele noch immer nicht aufgeklärt sind.
»Auch die, die blieben, gingen ins Exil«, schrieb der südamerikanische Literaturnobelpreisträger Gabriel Garcia Marquez über diese Zeit, die erst 20 Jahre zurückliegt.
Auf dem Plaza de Armas sitze ich im Schatten der altehrwürdigen Kathedrale, deren Silhouette sich in einem gläsernen Wolkenkratzer spiegelt. Ich sehe Kindern zu, die sich Brotkrumen auf Schultern und Hände legen, um damit Tauben anzulocken. Die Eltern der Kleinen lächeln selig. Männer und Frauen, die zu jener Zeit, als Pinochets Geheimpolizei patroullierte, so jung waren, wie ihre Kinder es jetzt sind. Haben auch sie damals Brotstückchen auf ihre Schultern und Hände gelegt? Haben ihre Eltern sie selig betrachten können?
Ich gehe weiter, erreiche den Palacio de la Moneda - stummer Zeuge jenes Putsches, bei dem sich Salvador Allende das Leben genommen hatte, bevor Pinochets mordende Handlanger in den Palast gestürmt waren.
Die Chilenen setzten Allende ein Denkmal, unmittelbar vor dem Palacio, wo sich jeden Morgen die Wachen des Armeekorps ablösen. Hier gibt es Denkmäler für alle Präsidenten Chiles. Außer für einen: Pinochet.
DURCH DAS LAND DER MAPUCHE
Der Überlandbus rollt durch Araukanien, dem einstigen Reich der Mapuche, über den legendären Fluß Bio-Bio. Von diesen Ufern aus haben die stolzen Indianer, deren Name »Menschen der Erde« bedeutet, über 300 Jahre lang ihre Freiheit verteidigt, um sie am Ende an die Spanier zu verlieren. Gleichsam sekundiert der Wasserlauf die nördliche Grenze Patagoniens.
Raucherpause in Temuco, der Heimat von Pablo Neruda. Die bedeutsamste Persönlichkeit seiner Kindheit soll der große australe Regen gewesen sein. Ihr wäre ich in dieser Nacht gern begegnet. Stattdessen grüßen die Sterne des Südens vom Firmament.
Ich erreiche das Städtchen Puerto Montt. Vom Fenster meiner Pension, die auf einem steilen Berghang steht, sehe ich auf den Hafen mit seinen Kränen und Fischerbooten. Der Morgennebel hat sich gelichtet. Ein knallrotes Passagierschiff von der schieren Größe eines Eisbrechers sticht in See und nimmt seinen Kurs entlang der urwüchsigen, von Fjorden zerschnittenen Küste Chiles auf.
Der britische Evolutionsforscher Charles Darwin hatte für diese spektakuläre Landschaft, die er in jungen Jahren auf einem Segelschiff bereist hatte, offenbar wenig übrig, als er sie als »grüne Einöde« bezeichnete. Allerdings, so gestand er später ein, sei sie ihm zeitlebens nicht mehr aus dem Kopf gegangen.
Ich laufe durch die Stadt. Taxis hupen Touristenbusse an, die die Straße zum Hafen verstopfen. Rauchwolken steigen von Grillrosten auf, hinter denen weißgekittelte Verkäufer emsig Fleischspieße wenden. Herrenlose Hunde schleichen mit gesenkten Köpfen um die Beine der Händler. Seichter Südwind scheucht den Rauch auf und vermengt ihn mit dem Geruch von Tang und Algen. Eine Kirchenglocke mahnt zum Gottesdienst. Zwei bärtige Männer mit abgewetzten Kleidern teilen sich einen Tetrapack Wein und äugen einer Gruppe von Deutschen in bunter Outdoorkleidung nach, die in ein Restaurant namens »Dresden« einkehren.
DIE MAGIE DER PAMPA
Über die mächtige Andenkordillere reise ich nach Argentinien. Der Bus erklimmt einen 1.200 Meter hohen Paß und rollt vorbei an türkisfarbenen Seen, in dessen Wasser sich zerklüftete, eisverkrustete Bergkämme spiegeln.
In Bariloche steige ich um. Eine malerische Stadt mit lieblichen Häusern aus Buchenholz und grünlichem Gestein. Eine Chocolateria reiht sich an die nächste. Reisebüros offerieren abenteuerliche Rafting-, Biking- und Trekkingtouren. Im Dialog mit dem nahen Nationalpark, dessen Berggipfel blasse Wolken umkräuseln und einen glasklaren See umrahmen, scheint es mir, ich flaniere durch Chamonix. Doch weil der Oleander und die Zypressen im November blühen, werde ich mir bewußt, wo ich wirklich bin.
Ich stoße 2.000 Kilometer in den Süden vor. Hinter Fensterglas zieht die endlose Pampa vorbei. Mein Blick verliert sich in dieser Ferne. Sie gleicht jener Sibiriens, das ich lange Zeit per Fahrrad, Kajak und zu Fuß bereist habe. Diese Weite, die den Geist aufsaugt. Der Himmel scheint keinen Anfang zu haben. Dort wie hier.
Ich erinnere mich eines Satzes von Jorge Luis Borges, dem vermutlich bedeutendsten Literaten Argentiniens: »Die Einsamkeit war vollkommen, vielleicht feindlich ... er konnte sich einbilden, er fahre in die Vergangenheit, nicht bloß in den Süden ...«
Grasflächen, Torfmulden, Sandinseln. Ein Meer schierer Leere. Doch wie die Augen sich ans Hell und Dunkel gewöhnen, wissen sie in diesem Ödland bald jene Dinge zu entdecken, die sie erst nicht bemerkten.
Ich sehe Kondore, die ihre Bahnen am gläsern scheinenden Himmel ziehen und Flamingos auf einem verlassenen See; ich verfolge den Weg eines flinken Fuchses mit der Farbe des Sandes und beobachte die Lämmer auf dem trockenen Gras, welche tölpelhaft auf das im dicken Fell stehende Muttertier zurennen. Eine Herde Guanakos läuft scheinbar ziellos dem vor Hitze flirrenden Horizont entgegen. Nandus verharren im lichten Gras und wenden aufgeregt ihre Köpfe, bevor auch sie davoneilen, fort von dem Asphaltband und dem Bus. Beides erscheint mir nun unwirklich, so wie ich selbst fast auch.
Erst als die Nacht das Land auslöscht und sich mein Gesicht im Fenster spiegelt, kehrt mein Geist zu mir zurück.
EINE HAUPTSTADT FÜR WANDERER
»Willkommen in der Hauptstadt des Trekkings«, preist der Untertitel des Ortseingangsschildes von El Chaltén das beschauliche Mekka für ambitionierte Wanderer und Kletterer. Hinter grünen Hügeln zieht sich eine Skyline wuchtigen Gesteins, aus deren Mitte die legendären Gipfel von Cerro Torre und Cerro Fitz Roy in den blauen Himmel stechen. Bei diesem Anblick mag einem Bergsteiger das Herz hüpfen - oder in die Hose rutschen.
Ein drahtiger Ranger tritt aus seiner Station und zitiert mich, der ich mir gerade eine Marlboro zwischen die Lippen schiebe, zum Gespräch. Zwischen Fotos von verheerenden Waldbränden leuchtet es mir ein, daß im Nationalpark nicht geraucht werden darf. Als ich die Zigaretten in einen Mülleimer werfe, wirkt der Ranger sehr zufrieden. Er verlangt keinen Peso für den Parkaufenthalt. Die Natur, sagt er, sei schließlich keine Ware. Sie müsse für alle, ob arm oder reich, zugänglich sein.
Ich schlage mein Zelt auf dem Hof eines Pferdezüchters auf, nachdem ich sein stummes aber freundliches Nicken als Erlaubnis verstanden habe.
Am nächsten Tag strebe ich unter einem wolkenlosen Himmel der bizarren Felsnadel Cerro Torre entgegen. Stundenlang durchquere ich einen Südbuchenwald, wandere vorbei an sturmgeknickten und verbrannten Bäumen und erreiche nach etwa 20 Kilometern die Laguna Torres. Eisschollen schwimmen auf dem Wasser. Am anderen Ufer erhebt sich die himmelsstürmende Gestalt des Cerro Torre. Wie Weihrauch schleichen weiße Wolkenfetzen über seine schroffen Zacken. Ich sitze vor ihm, staune und spüre schluckend, wie sich Demut anfühlt.
Dieser Berg, der nur wenig höher als die Zugspitze ist, gilt als eine der alpinen Herausforderungen auf der Welt. Den kühnsten Kletterern brachte er das Scheitern bei. Selbst Reinhold Messner, dem König der Berge. Vielleicht besteht das Besondere weniger darin, den Cerro Torre zu bezwingen als in dem Mut, rechtzeitig seine eigenen Grenzen zu akzeptieren und umzukehren.
Einen Tag später schlage ich den Weg zu einem ebenbürtigen Giganten ein, dem Cerro Fitz Roy. Sein Name ist dem Kapitän der Beagle gewidmet, jenem Segelschiff, auf dem Charles Darwin einst Südamerika erkundete.
Seit 18 Millionen Jahren ragt der dreieinhalbtausend Meter hohe Granitfelsen wie die Zunge eines riesigen Fabeltiers aus der patagonischen Erde. Früher nannten ihn die Tehuelche-Indianer El Chaltén - der Vulkan.
Türkis glitzert das Wasser der gletschergespeisten Laguna de los Tres zu seinem Fuße im Nachmittagslicht. Ab und zu rollt Gestein herab, arbeitet das Eis. Dann wieder Stille, pure Stille, in der es nur mich und den Berg zu geben scheint. Die Zeit verliert ihre Bedeutung. Als hätte es nie einen anderen Moment als diesen gegeben.
Erst als die Nacht das Land auslöscht und sich mein Gesicht im Fenster spiegelt, kehrt mein Geist zu mir zurück.
DER GLETSCHER PERITO MORENO
Am Lago Argentino, dem größten See Argentiniens, liegt die kleine Stadt El Calafate, die, so scheint es, für den Tourismus gebaut wurde. Auf der von bunten Souvenirläden, edlen Restaurants und einem kolossalen Casino gesäumten Hauptstraße San Martin ist die Welt zu Gast. Hinein in ein Internetcafé, die E-Mails gecheckt, ein Anruf daheim. Zwischen dort und hier soll die halbe Welt liegen?
Dies wird mir erst wieder bewußt, als ich einige Kilometer von El Calafate entfernt an einem der bekanntesten Gletscher des Planeten stehe: dem Perito Moreno. Vor seinem steil aufragenden Panzer aus blauglitzerndem Eis treibt ein Passagierschiff. Es gleicht einer Nußschale angesichts der bedrohlichen, mehr als einhundert Meter hohen Front erstarrten Wassers, von der sich zuweilen mal kleinere, mal größere Stücke mit dem Geräusch einer detonierenden Sprengladung lösen und tosend in den Lago Argentino stürzen.
Begnadet ist, wer »el gran rompimiento“ erleben darf. Während dieses seltenen Naturspektakels wird die gesamte Gletscherzunge durch den Druck des sich hinter ihr anstauenden Wasser fortgespült. Wer darauf warten will, sollte Geduld mitbringen; im Extremfall bis zu zehn Jahre.
SCHREIE AUS STEIN
So nennt man die Torres del Paine. Gemeint ist das weltbekannte, unwirklich scheinende Felsmassiv etwas südlich von El Calafate. Ich will verflucht sein, wenn ich je ein schöneres sah.
Wenn der Sturm vom Südlichen Eisfeld in die Zeltwände peitscht, Du gegen vier Uhr früh vom Getöse erwachst, verunsichert aus dem Zelt spähst, verharrst und den Mund nicht mehr zukriegst, weil die Sonne über dem aufgewühlten Lago Pehoe emporsteigt, die zerrissenen Wolken blutrot färbt und ein Licht auf die Felsen dort vor Dir gießt, daß es scheint, sie würden glühen, dann merkst Du, wie viel von dem, über das Du mal sagtest, es wäre so wunderbar toll, sich in dieser irritierenden Schönheit verliert.
Tief bewegt von diesem Anblick löse ich mich nach Tagesanbruch vom Zeltplatz und wandere über umgestürzte Südbuchen und zierliche Wasserfälle dem Lago Grey entgegen, von wo aus sich mir die Paine-Kordillere aus einer weiteren Perspektive erschließen soll. Einen Diamanten würde man schließlich auch nicht nur von einer Seite betrachten und ihn dann wieder weglegen.
Später, fern der Wälder, dort, wo der Sturm um die Klippen faucht und Eisberge über den See donnernd gegen das Ufer treibt, schiebe ich mich den Pfad zu dem auf meiner Karte vermerkten Aussichtspunkt voran. Wolkenfelder fliegen wie außer Kontrolle geratene Raumschiffe über mir und prallen gegen das wuchtige Bergmassiv, wo sie sich aufbäumen und scheinbar nicht wissen, wohin. Inmitten dieser Naturgewalt würde ich gern länger verharren, doch der Sturm legt noch an Kraft zu und fegt mich fast eine Klippe hinab. So laufe ich zurück, zurück zu meinem Zelt.
INSEL UNTER SCHWARZER SONNE
Das Ende der Welt ... ist fern. Ferne wird auch spürbar, weil unterwegs das Alltägliche in der magnetischen Sucht, die Neugier zu stillen, verwischt.
Vor langer Zeit glaubten die Seefahrer, hier, auf Feuerland, schiene eine schwarze Sonne, hausten sechzehnfingrige Antipoden und alles wachse verkehrt herum. Wahrlich, im Zauber des Fremden stellte sich mein eigenes Leben schon immer auf den Kopf.
Die Sonne hier ist nicht schwarz, aber sie ist längst untergegangen. Auf dem Beagle-Kanal spiegeln sich die Sterne. Hinter mir, von Dunkel umgrenzt, steht das berüchtigte Gefängnis von Ushuaia, früher ein finsterer Ort.
Während ich noch lange auf das Wasser sehe, überlege ich mir, ob Reisen wirklich Freiheit bedeutet. Ist es nicht eher so, wie Bruce Chatwin schrieb? »Diese Erde ist eine unbarmherzige Liebhaberin. Sie verhext. Sie ist eine Zauberin! Sie nimmt Sie in ihre Arme und läßt Sie nie wieder gehen.«
Die Zitate wurden folgenden Büchern entnommen:
»Kap Hoorn«, Francisco Coloane, Unionsverlag
»Das Abenteuer des Miguel Littin«, Gabriel Garcia Marquez, Fischer
»Die Bibliothek von Babylon«, Jorge Luis Borges, Reclam
»In Patagonien«, Bruce Chatwin, rororo