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VON DER REISE (1. TEIL HERBST)

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Nachdem Markus Möller ein altes Tagebuch seines Vaters gefunden hat, begann er im Herbst letzten Jahres, sich auf die Spuren seiner Kindheit in der DDR zu begeben. Auf einer mehrwöchigen Wanderschaft durchstreifte er seine Heimat Mecklenburg-Vorpommern. Eine Reise zwischen Gestern und Heute:

»Es war Oktober, 1978, ich war sieben und mein Vater etwas jünger als ich heute. Wir saßen in den hellbraunen Polstersitzen eines brandneuen Moskwitsch und zerschnitten die Straßen. Vater lenkte ihn wie einen Mercedes. Ein Autoradio gab es nicht, also hörten wir dem Motor zu.

Um uns der sommermüde Darß mit seinen schilfgedeckten Hütten, von windgemarterten Bäumen gerahmt; der Bodden und die von ihren Futterausflügen heimkehrenden Kraniche. Wenn wir aus dem Wagen stiegen und uns an die frischlackierten Türen lehnten, schienen uns die Vögel von der Freiheit der Lüfte zu erzählen. Und irgendwo darüber - in den Weiten des Weltraums - schwebte Sigmund Jähn als erster Deutscher durch das All.

Wir reisten entlang des Sunds, auf dem die Boote schaukelten, bräunlich wie das erste gefallene Laub, das aufs weite Meer hinaustrieb. An der polnischen Grenze kehrten wir um, und ich fragte Vater: »Warum denn schon jetzt?«

Der Herbst hier oben ist die Zeit der Nebel, die aus den Wiesen und Gewässern kriechen, der Winde, die das Meer ans Land werfen und es aufpeitschen, als wollten seine Schaumkronen zubeißen; es ist die Zeit der kargen Gespräche, während die Krägen über die Münder reichen und die Kapuzen den fast waagerechten Regen abzuwehren versuchen. Und dann, auf einmal: Sonne. Die die Felder vergoldet, den ziehenden Mähdreschern blinkende Sterne in die verstaubten Scheiben malt und im langen Abschied den Abendhimmel ins Violette spielen lässt. Es heißt, Gott habe seine Schöpfung hier begonnen.

Wieder ist es Herbst, wieder breche ich auf. Ich habe den Entschluss gefasst, meinen eigenen Spuren zu folgen. Auf Straßen und Wegen einer Reise, die mein Vater vor über dreißig Jahren in seinem Tagebuch mit offenkundiger Wehmut vermerkt hatte.

Also wandere ich ostwärts, mit trägen Beinen, die zu oft unter einem Schreibtisch gekreuzt waren, einem Rucksack, der meine Füße in den Sand treibt und einer Handvoll Neugier, wie es wieder ist, sich ein paar Tage aus dem Alltag zu klinken. Das Meer reicht noch über den Horizont. Ich vergaß das fast, weil ich lange nicht am Strand war.

Er ist verlassen in dieser Frühe. Möwen kreischen von den salzverkrusteten Buhnen her. Die Sonne stemmt sich über die Steilküste, eine steife Brise greift von der gischtenden See unter meine Jacke, in mein Gesicht, ich spüre das Blut in den Adern ...«